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Gedichtbuch “Und dann nehme ich…”

Illustration und Layout des Gedichtbuchs.
„Und dann nehme ich entweder die Blumen oder stürze mich doch in die Hecke“. Margarita Wolfs Gedichte erzählen. Erzählen kleine und große Geschichten von Zitronenbäumen, die nach Mandelblättern riechen, von Gerümpel im Kopf und Steinen aus Honig. Sie treffen auf ein Ich, ein Du, ein Wir, auf Fragen und Antworten. Berühren das, was war, was ist und was sein könnte. Sie erzählen von den Schimmern des Lebens, aus dunklen Gassen und von Liebe, die nach vorne geht.
Zeitgenössische Lyrik mit Illustrationen im Buchformat.

Kurzgeschichte “I have to bring this out of my system”

Illustrationen für eine Kurzgeschichte von Margarita Wolf.

Leseprobe: Es war der erste Tag, an dem es schneite. Der Himmel war bereits über Nacht zugezogen und von dicken Wolken bedeckt. Die Luft roch klar und eisig. Die Baumwipfel ließen sich vom Wind bewegen und schaukelten hin und her. Langsam setzten sich die Flocken auf den Baumspitzen nieder und bildeten eine gräuliche Schicht, die später weißer und weißer wurde.
Am nächsten Morgen, als Paul aus dem Fenster blickte, war alles unter dieser Decke begraben. Die Bäume, der Schotterweg zum Haus, der Schotterweg vom Haus zum Schuppen, der matschige Weg in den Wald. Paul ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und legte sich seufzend zurück ins Bett. Er schloss die Augen. Im Zimmer war es so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Er wartete. Exakt fünf Atemzüge später kam sein Vater zur Tür herein, nickte ihn stumm an, kehrte wieder um und ging.
Paul stand auf. Er war klein und dünn und jetzt, da er unter der Decke hervorgekrochen war, spitze die Gänsehaut unter seinem dünnen Hemdchen hervor. Er zog sich an. Knöpfte die Knöpfe zu, von unten nach oben. Schlüpfte in die Socken von gestern. Er trat vor die Tür und kalte Schneeluft stieß ihm entgegen. Er blickte sich um und atmete kräftig ein und aus. Dann trat er wieder hinein, ging durch das Haus bis ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Er sah sich im kleinen Spiegel an. Dann schlüpfte er in seine Winterjacke, ging vor die Tür, hinter das Haus zum Schuppen, holte die Schneeschaufel und klopfte mit dem Stiel im Vorbeigehen bei seinem Bruder an, der in einem Trailer unweit des Hauses schlief.
Er begann zu schaufeln.
Er atmete laut dabei und ächzte unter der schweren Last des Schnees. Er wünschte sich, das alles wäre schon vorbei. Der Winter, das Leben hier in der Einöde und vielleicht sogar das Leben selbst. Er hatte keine Lust mehr auf die Schule. Die anderen waren blöd – sie lachten ihn aus, weil er geflickte Hosen trug und nicht den neuesten Shit in den Unterricht mitbrachte. Er hatte einfach keine Geschichten zu erzählen. Was sollte er sagen? Dass er in der Pampa hauste, seine Eltern getrennt waren und er bei seinem einsilbigen Vater wohnte? Dass er jagen gehen, das Wild mit den eigenen Händen aus dem Wald schleifen musste, dass er es an den Achillessehnen aufschlitzen und mit zwei Haken und einem Flaschenzug an die Decke des Schuppens ziehen musste? Und dann das Ausbluten… Hals aufschneiden, dampfendes Blut auffangen, warten. Dann Bauchdecke öffnen, Haut abziehen, Eingeweide entfernen, schneiden, ziehen, filetieren. Sollt er ihnen sagen, dass seine Mutter in einem Burgerrestaurant arbeitete und Burgerfleisch wendete (viel später hatte er auf die Frage seiner Freundin, was seine Mutter denn beruflich mache, kurz und knapp gesagt: „she flipps burgers“)? Dass sie manchmal betrunken war und Sachen umwarf oder einfach mit den Klamotten ins Bett ging? Nein, er hatte keine Geschichten. Und er konnte auch sonst nicht viel bieten. Seine Füße waren zu groß für seinen Körper und im Sport war er nie besonders gut, nicht so wie die anderen Jungen. Paul hasste die Schule. Es war der Ort, an dem er sich schnell bewegen musste, wo er nicht ausatmen und entspannen konnte, sein Körper war permanent auf hundertachtzig, Adrenalin stürzte durch seine Adern. Er war schon zu oft verdroschen worden, als dass er sich den Luxus einer ruhigen Minute auch nur gedanklich leisten konnte.

Als Ruth zu leuchten beginnt

“Als Ruth zu leuchten beginnt”, ist eine Kindergeschichte über das Walmädchen Ruth das eines Tages zu leuten beginnt. Geschrieben und illustriert von Magdalena Wolf.

Leseprobe: Tief unten, dort, wo das Meer sein leuchtendes Blau gegen dunkles Schwarzblau tauscht, wo das Licht nur noch spärlich hingelangt, dort lebt Ruth mit ihrer Walfamilie. Ruths Familie besteht aus fünf großen, schweren Walmamas und ihren Kälbern Kurt, Irma, Amalie und Egon.
Ruths Tage bestehen aus fressen, tauchen und spielen. Am liebsten spielt sie mit ihren Walfreunden „in den Ozean krachen“. Das Spiel startet mit einem Wettschwimmen. Ruths Walfreunde Kurt, Irma, Amalie und Egon bringen sich in Startposition. Egon stößt einen hohen lauten Ton aus und los geht es. Die Walkälber schwimmen so schnell sie können auf die Sonne zu. Der erste, der die Wasseroberfläche durchbricht und sich mit einem lauten, krachenden Aufplatschen in den Ozean fallen lässt, hat gewonnen. Es ist ein herrliches Walleben findet Ruth. Ihre Freunde finden das auch.

Egon hat es als erstes gesehen.
„Ruth, schau mal, deine Schwanzflosse leuchtet ganz gelb“, sagt er erstaunt. Ruth schaut an sich hinunter. „Stimmt. Das wird schon wieder weg gehen“, antwortet sie gelassen.
Das gelbe Leuchten geht nicht wieder weg. Im Gegenteil. Das gelbe Leuchten breitet sich auf Ruths Walkörper aus. Die Rückenflosse beginnt zu leuchten, einen Tag später die kleinen Schwimmflossen. Noch einen Tag später leuchtet Ruths Rücken und schließlich leuchtet ihr ganzer Körper. Sie leuchtet hell wie die Sonne. Keiner in der Walfamilie kann mehr schlafen, außer Ruth.

Die Walfamilie wird immer übernächtigter, übellauniger und motziger. Irma motzt Egon an, Egon motzt seine Walmama an, Egons Walmama motzt Amalie an und Amalie motzt Kurt an. Alle motzten sich gegenseitig an. Nur Ruth motzt keiner an. Die ganze Walfamilie hat ein wenig Angst vor Ruths Leuchten.
„Jetzt reicht’s!“, ruft Kurts Walmama eines Nachts, „so kann das nicht weitergehen. Ruth schläft seelenruhig und alle anderen sind wach! Ruth!“
„Mh“, murmelt Ruth und öffnet verschlafen ein Auge.
„Du musst woanders schlafen!“, meckert Kurts Walmama.
„Warum?“, fragt Ruth.
„Du leuchtest so hell wie die Sonne, nur im Wasser, keiner kann mehr schlafen“, fährt Kurts Walmama übel gelaunt fort.
„Ja, ja ich weiß“, motzt jetzt auch Ruth und fragt knurrig: „Weisst du vielleicht, wie ich das abstellen kann? Ich will es ja gar nicht haben, das blöde Leuchten.“
„Woher soll ich das wissen? Für heute Nacht schläfst du erstmal da hinten und morgen sehen wir weiter“, schimpft Kurts Walmama und deutet mit ihrer Flosse in die Dunkelheit. Ruth schwimmt nach „da hinten“, was ungefähr 2 km weit von ihrer Familie weg ist.

Die Walfamilie schläft seit langem wieder einmal ohne Probleme. Nur Ruth kann diesmal nicht schlafen. Sie ist noch nie so weit von ihrer Familie weg gewesen. Sie schließt die Augen, zählt bis zehn, dreht sich auf den Rücken, taucht ein wenig umher. Ruth wird einfach nicht müde.
„Ich werde bis zum Grund des Meeres und wieder zurück tauchen, vielleicht kommt dann die Müdigkeit“, denkt Ruth und taucht gemächlich nach unten.