Kurzgeschichte „Das blaue Haus“

„Das blaue Haus“, eine Kurzgeschichte illustriert und geschrieben von Magdalena Wolf.

Leseprobe: Die grauen Zacken des Gebirges streckten sich lang in den weiten, blauen Morgenhimmel hinein. Warm schien die erste Februarsonne auf die schneebedeckten, weiß leuchtenden Gipfel. Alles atmete, erwachte, streckte und weitete sich dem Frühling entgegen. Der Winter war grau und lang gewesen.
Tief unter den weißen Spitzen, in der Schwere des Gebirges, lag eingebettet zwischen den harten Felsen ein sandiges Plateau. Der goldgelbe Sand erwärmte sich in der Sonne dieses Morgens. Es war ein seltsamer, einsamer, öder Ort.
In der Mitte dieses gelben Meeres stand ein blaues Haus. Das meerblaue Dach schmiegte sich elegant an die hellblauen Steinwände. Die Haustüre und die Fensterläden schmückten sich mit dem gleichen tiefen Blau des Daches. Zwei Stockwerke beherbergte das Häuschen. Über eine Leiter gelangte man in den ersten Stock, dort stand ein einsames Bett, die Laken blau wie das Dach. Alte Holzdielen zierten die Fußböden, die beim Darübergehen leise knurrten.
Die Küche weilte in einer geräumigen Ecke im Erdgeschoss, ein alter Ofen spendete tröstlich Wärme. Von draußen funkelte der goldgelbe Sand durch das Fenster auf das Bücherregal, den Esstisch. Die Ellenbogen auf die weißblaue, mit winzigen Blumen bestickte Tischdecke gestützt saß Lotti und las ein Gedicht. Über die Einsamkeit zu zweit.
Lotti zog die sonnen- und ofengewärmte Luft tief ein und legte das Gedicht auf den Tisch. Zum Glück war sie nicht mehr zu zweit, nur noch alleine, manchmal einsam. Sie erhob sich leise, ging ans Fenster, betrachtete die Berge. Es regnete.
Leichter Niesel, dicke, nasse Tropfen, wilder, wütender Regen.

„Pok“, ein dumpfer Laut kam von der Tür herüber. „Pok“, als klopfe etwas Großes, Fülliges. „Pok“, Lotti schaute und schlürfte zur Tür. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit, der Regen drängte sich auf die Schwelle, dann hinein auf die alten Holzdielen. Unter all dem Nass lag etwas. Ein dunkelbraunes, fast schwarzes, haariges Etwas von der Größe eines Straußeneis.
Lotti beugte sich nach unten, berührte es vorsichtig, hob es auf, trug es behutsam hinein und legte es auf den Küchentisch. Sie starrte es an, bis sie müde wurde.
Der Morgen zeigte sich klar und sonnig am nächsten Tag. Lotti frühstückte, schaute, aß, beobachtete, trank, befühlte. Dann trug sie es hinaus in die goldgelbe Wüste und legte es ein paar Meter weg von ihrem Haus in den Sand. Am Fenster sitzend beobachtete sie das haarige Ding.
Nichts. Es passierte nichts, den ganzen Tag nicht. Lotti saß und schaute bis es schwarze Nacht war.
Am nächsten Morgen war das haarige Ding verschwunden. Lotti eilte nach draußen. Nichts, das haarige Etwas war verschwunden, eingesunken in den gelben Sand der Wüste.
Der Regen prasselte, die Sonne wärmte, das Gebirge warf seine weißen Schneekappen ab. Tag für Tag schob sich die Sonne über den Horizont, die Tage kamen, die Monate vergingen. Nichts. Lotti saß am Fenster. Immer allein, manchmal einsam. Grün.

Grün. Zum Gelb und Grauschwarz gesellte sich ein Grün, genau an der Stelle, an der das haarige Ding im Frühling eingesunken war. Neugierig lief Lotti hinaus. Zarte, hellgrüne, von der Sonne geliebte feine Blätter, ein kräftiger dunkelgrüner Stiel – lebensbejahend wuchs der kleine kräftige Keimling aus der merkwürdigen Landschaft. Lotti staunte, betrachtete und umsorgte den kleinen Keimling nun jeden Tag.
Die Pflanze wuchs Blatt um Blatt um Blatt, bis sie einen stattlichen Meter erreichte. Von dem hochgewachsenen, aufrechten Stängel zweigten fein duftende, zartgliedrige, hellgrün-türkise Blätter ab. Der Kopf des Stängels war gekrönt von vielen kleinen, fast winzigen Blütenknospen.

Im Spätsommer, die Sonne schaute auf ihrem schon tiefer werdenden Bogen nur noch wenige Stunden über die Gipfel, öffneten sich die Knospen. Zierliche, kleine, hellgelbe und weiße Blüten bahnten sich eine nach der anderen ihren Weg ans Licht. Voller Bewunderung beobachtete Lotti das Schauspiel.
Mit den Fingern voran schob Lotti ihre Hand vorsichtig nach vorne um das zarte Geschöpf zu berühren. Als ihre Finger auf die feinen, gelben Blüten trafen, erklang plötzlich ein Ton. Lotti erschrak. Der Schreck wich der Neugierde. Lotti berührte die Pflanze ein weiteres Mal. Wieder erklang ein Ton, ein klares, helles „A“. Bezaubert hörte sie das Tönen der Blüte.

Die erste Winterkälte kroch zwischen den Bergen hervor, als die Pflanze verstummte. Sie schloss ihre Blüten, zurück blieben kleine hölzerne Körner. Ein paar davon nahm Lotti mit in ihr blaues Haus. Jetzt war sie wieder allein. Selten einsam. Es schneite. Weiche Flocken, körniger Graupel, feiner trockener Pulverschnee, klebriger Nassschnee, Schneeregen.
Lotti saß am Fenster und wartete, wartete, dass es endlich wieder Frühling würde. Sie schaute hinaus und in sich hinein. Sitzen, warten, schauen, zweifeln, ringen, resignieren, erkennen. Stille. Lottis Ich wurde ganz klein und der Raum innen ganz groß.