Kurzgeschichte „Das kleine Wohnzimmer“

Illustrationen für „Das kleine Wohnzimmer“, eine Kurzgeschichte von Margarita Wolf.

Leseprobe: Meine Freundin hat sich ein kleines Wohnzimmer gebaut. Es war so ein Set zum Basteln und Selber-Zusammen-Bauen. Das Wohnzimmer besteht aus minikleinen Teilen, die sie mühsam und in gebückter Trollhaltung zusammengeklebt, bemalt und angesteckt hat. Es gibt alles: ein Sofa mit Abstelltischchen, auf dem ein kleines Glas steht. Es gibt eine Stehlampe, mit Glühbirne und ein aufgeschlagenes Buch, das auf einer kleinen Tagesdecke liegt. Es gibt einen Perserteppich und ein Bücherregal. Nur einen Fernseher gibt es nicht (macht das Hoffnung?). Neben dem Sofa steht ein Ohrensessel und an der Wand hängt ein Bild von Van Gogh. Die Sonnenblumen. Eine Seite des Wohnzimmers hat eine gemusterte Tapete.
So.
Dann hat sie eine Glaskuppel darüber gestellt, damit das Wohnzimmer nicht verstaubt. Jetzt steht es in ihrem Wohnzimmer (ein Wohnzimmer im Wohnzimmer) auf einem kleinen Sockel, damit sich Gäste dieses Schauspiel anschauen können. Das kleine Wohnzimmer verstaubt auch tatsächlich nicht, nur die Glaskuppel.
Letztens bin ich dagestanden und hab mir das Ganze auch in gebückter Trollhaltung angeschaut. Es leben keine Menschen im kleinen Wohnzimmer, nicht mal eine Katze. Ich verstehe das. Das kleine Wohnzimmer ist nicht nur eine Spielerei für Leute, die fitzikleine Sachen basteln wollen, es ist der Ausdruck eines Lebensgefühls. Du stehst unter der Glocke, verstaubst zwar nicht, kannst aber auch nicht gescheit atmen. Außerdem fühlt sich alles leer an, weil da ja wirklich niemand ist. Das heißt, du schaust von außen auf dich drauf, kommst aber nicht rein, obwohl du drinstehst. Du kannst dich nicht von innen heraus selbst ausfüllen, anfüllen besser gesagt. Du bleibst eine Hülle. Eine Hülle unter Beobachtung.
Das habe ich dann verstanden und ich richtete mich auf, um meine Freundin zu fragen, wo sie denn das kleine Wohnzimmerbauset her habe und dass ich ihr Hobby wirklich komisch finde. Es erzürnte mich regelrecht. Sie schob die Schultern zusammen und sagte nur: „Es ist so süüüüß!“ Ich hätte am liebsten die Glaskuppel genommen und in die Ecke geschleudert. Stattdessen bin ich wie angewurzelt dagestanden und hab keinen Ton rausgebracht. „Süüüüß“ hallte es in meinem riesigen Kopf nach. Oh Gott.
Dann merkte ich langsam eine Zuneigung zu diesem kleinen Ding mit der durchsichtigen Glaskuppel. Das hab ich gemerkt, weil ich seitlich immer zu ihm rüber geschaut hab, obwohl ich das gar nicht wollte. Irgendwie fühlte ich mich verbunden mit diesem blöden Ding. Es war logisch. Wenn du immer in einer bestimmten Welt gelebt hast, erkennst du das und du lernst diese Umgebung ja auch ein bisschen lieben. Dann wieder nicht, dann wieder schon. Aber du weißt ja auch nicht, wie du wieder rauskommen sollst, also… bleibst halt drin. Das Alter macht das nicht besser, denke ich mir. Obwohl mein Opa letzthin gesagt hat (er ist jetzt vierundachtzig), er fährt ab jetzt nur noch auf dem Gehsteig Fahrrad und er rät mir, ich solle damit nicht so lange warten. Was bedeutet das überhaupt? Ist das auf dem Gehsteig-Fahrrad-Fahren das Revolutionärste, das er je in seinem Leben getan hat? Ist das sein Auflehnen gegen die Welt? Ist dann das Annehmen dieser Welt, ein kleines Wohnzimmer zu bauen und eine Glaskuppel drauf zu stellen? Ich kenne mich nicht mehr aus.
Zwischen dem kleinen Wohnzimmer und mir gibt es wirklich viele Parallelen, das wurde mir jetzt beim Rüberschielen klar.