Kurzgeschichte „I have to bring this out of my system“

Illustrationen für eine Kurzgeschichte von Margarita Wolf.

Leseprobe: Es war der erste Tag, an dem es schneite. Der Himmel war bereits über Nacht zugezogen und von dicken Wolken bedeckt. Die Luft roch klar und eisig. Die Baumwipfel ließen sich vom Wind bewegen und schaukelten hin und her. Langsam setzten sich die Flocken auf den Baumspitzen nieder und bildeten eine gräuliche Schicht, die später weißer und weißer wurde.
Am nächsten Morgen, als Paul aus dem Fenster blickte, war alles unter dieser Decke begraben. Die Bäume, der Schotterweg zum Haus, der Schotterweg vom Haus zum Schuppen, der matschige Weg in den Wald. Paul ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und legte sich seufzend zurück ins Bett. Er schloss die Augen. Im Zimmer war es so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte. Er wartete. Exakt fünf Atemzüge später kam sein Vater zur Tür herein, nickte ihn stumm an, kehrte wieder um und ging.
Paul stand auf. Er war klein und dünn und jetzt, da er unter der Decke hervorgekrochen war, spitze die Gänsehaut unter seinem dünnen Hemdchen hervor. Er zog sich an. Knöpfte die Knöpfe zu, von unten nach oben. Schlüpfte in die Socken von gestern. Er trat vor die Tür und kalte Schneeluft stieß ihm entgegen. Er blickte sich um und atmete kräftig ein und aus. Dann trat er wieder hinein, ging durch das Haus bis ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Er sah sich im kleinen Spiegel an. Dann schlüpfte er in seine Winterjacke, ging vor die Tür, hinter das Haus zum Schuppen, holte die Schneeschaufel und klopfte mit dem Stiel im Vorbeigehen bei seinem Bruder an, der in einem Trailer unweit des Hauses schlief.
Er begann zu schaufeln.
Er atmete laut dabei und ächzte unter der schweren Last des Schnees. Er wünschte sich, das alles wäre schon vorbei. Der Winter, das Leben hier in der Einöde und vielleicht sogar das Leben selbst. Er hatte keine Lust mehr auf die Schule. Die anderen waren blöd – sie lachten ihn aus, weil er geflickte Hosen trug und nicht den neuesten Shit in den Unterricht mitbrachte. Er hatte einfach keine Geschichten zu erzählen. Was sollte er sagen? Dass er in der Pampa hauste, seine Eltern getrennt waren und er bei seinem einsilbigen Vater wohnte? Dass er jagen gehen, das Wild mit den eigenen Händen aus dem Wald schleifen musste, dass er es an den Achillessehnen aufschlitzen und mit zwei Haken und einem Flaschenzug an die Decke des Schuppens ziehen musste? Und dann das Ausbluten… Hals aufschneiden, dampfendes Blut auffangen, warten. Dann Bauchdecke öffnen, Haut abziehen, Eingeweide entfernen, schneiden, ziehen, filetieren. Sollt er ihnen sagen, dass seine Mutter in einem Burgerrestaurant arbeitete und Burgerfleisch wendete (viel später hatte er auf die Frage seiner Freundin, was seine Mutter denn beruflich mache, kurz und knapp gesagt: „she flipps burgers“)? Dass sie manchmal betrunken war und Sachen umwarf oder einfach mit den Klamotten ins Bett ging? Nein, er hatte keine Geschichten. Und er konnte auch sonst nicht viel bieten. Seine Füße waren zu groß für seinen Körper und im Sport war er nie besonders gut, nicht so wie die anderen Jungen. Paul hasste die Schule. Es war der Ort, an dem er sich schnell bewegen musste, wo er nicht ausatmen und entspannen konnte, sein Körper war permanent auf hundertachtzig, Adrenalin stürzte durch seine Adern. Er war schon zu oft verdroschen worden, als dass er sich den Luxus einer ruhigen Minute auch nur gedanklich leisten konnte.