Kategorie: Zeichnung

Kurzgeschichte „Eiche Vollholz“

Illustrationen für „Eiche Vollholz“, eine Kurzgeschichte von Margarita Wolf.

Leseprobe: Wenn Sie mich so von außen sehen, denken Sie vielleicht: Ah, ja, ein ruhiger Mensch! Währenddessen besteigen meine Gedanken gerade das Riesentrampolin. Die innere Stille ist ein haariges Ding. Wenn ich zum Beispiel versuche zu meditieren, wärmt sich in mir mein persönliches Gedankenorchester auf. Ich liege in der Badewanne und mische andächtig Beruhigungsbadeöl unter das einfließende Wasser: Crescendo! Manchmal versuche ich, mich dann auf den Badeschwamm zu konzentrieren: Ich betrachte seine seltsame Struktur, die Krater und Furchen, seine Farbe und dann streichle ich damit meinen rechten Arm und dann streichle ich damit meinen linken Arm.
Meine Gedanken sind eigenständige Wesen. Es gibt Menschengedanken, Tiergedanken und Schlingpflanzengedanken. Sie alle leben in unterschiedlichen Gegenden – von der weichen, grasbewachsenen Savanne bis hin zum Permafrostwinter in Irkutsk. In meinem Gedankengestrüpp kann ich mich schon mal ein paar Wochen lang ordentlich verheddern. Es gibt Wegweiser hinaus, aber die sind nur manchmal sichtbar. Meine Gedanken sind die irrwitzigsten Gestalten mit sehr aufwändigen Frisuren und seltsamen Hobbies. Manche singen zum Beispiel, manche schreien eher, manche erlernen seit Jahren das Blockflötenspiel, mit mäßigem Erfolg. Manche schleichen sich von hinten an. Manche sind sehr leise und zart, die kommen immer mit den wichtigen Botschaften. Manche kriechen eher, manche schlagen ein wie ein Blitz. Mittlerweile kenne ich sie schon ganz gut und ich kann sie auch auseinanderhalten, obwohl es ein paar Chamäleons unter ihnen gibt. Bei denen muss ich besonders vorsichtig sein.
Morgens und abends sind sie am aktivsten, das habe ich bereits festgestellt. Dann erwacht in meinen Gedanken eine Vorliebe für Orchesterproben und Konzerte. Leider muss ich sagen, dass sie alle nicht besonders talentiert sind, was mich als unfreiwillige Zuhörerin durchaus zur Verzweiflung treiben kann. Das Morgenorchester besteht aus den klassischen frühen Vögeln. Sie üben nie, sind aber besonders stolz darauf, dass sie so früh wach sind, sich gefunden und zusammengeschlossen haben. Sie mögen einander und fühlen sich zu einem „wir“ verbunden, aber sie stehen auch in Konkurrenz zueinander, besonders was ihre musikalische Leistung, aber auch ihr äußeres Erscheinungsbild betrifft. Sie versuchen, sich mit den schrägsten und lautesten Tönen und den wildesten Kostümen und Bemalungen gegenseitig zu übertrumpfen. Ihre Energie ist beispiellos, wofür ich besonders früh morgens natürlich sehr dankbar bin. Einmal hat ein Minotaurus, der so gerne Andrea Bocelli gewesen wäre, zu mir gesagt, ich solle mich doch freuen, alle wollen nur meine Aufmerksamkeit. Während ich begann, dies heftig zu bezweifeln, trippelte er mit wehender Mähne davon. Ich glaube, er war beleidigt.

Letztes Wochenende bin ich im Bett gelegen und langsam aufgewacht. Es ist ein seltsames Gefühl, dieser Übergang vom Schlaf in die Wachheit. Als ich aus dem gedankenlosen Reich der Träume langsam herausschritt, wurde ich auf mein inneres Chaos aufmerksam und ich ahnte Böses. Aus jahrelanger Erfahrung weiß ich, dass die Mitglieder des Morgenorchesters nicht gerne aufräumen. Ich schleiche also ganz sachte an die Wachheit heran und sehe schon: Es sieht wüst aus! Diese pedantischen, egozentrischen Musiker, die ganze Nacht haben sie damit zugebracht, sich herauszuputzen. Ein Nebel hängt über dem Orchestergraben – ein heißer Dunst aus Haarspray, Nagellackentferner und Lockenstabhitze. Ich kribbele mit den Fingern, um aus diesem Alptraum ganz in meinen Körper zurückzugelangen, hege die Hoffnung, dem Orchester heute zu entkommen, aber da höre ich schon den ersten Gedanken flüstern: „Ich glaube, sie ist bald wach!“ Nun beginnen alle panisch durcheinanderzulaufen, Geigenbögen werden gespannt, der Perkussionist und der Paukenspieler suchen nach ihren Trommelknäufen, die Dicken mit den Blasinstrumenten polieren nochmal das glänzende Blech, der lange Lulatsch mit der Pelzstola zieht sich umständlich seinen Lippenstift nach, die dreibeinigen Zwillinge versuchen sich gegenseitig die Schnürsenkel zu binden, Madame Großauge feilt sich hastig die überlangen Fingernägel für das Gitarrensolo. Alle versuchen leise zu sein, aber das Getrippel und Getrappel ist meilenweit zu hören. Ich stöhne beim Anblick der Zukunftsgedanken, die neuerdings zu den Proben eingeladen werden und man kann nicht sagen, dass diese Leute besonderes angenehme Gäste wären. In meiner letzten Hoffnung öffne ich ganz langsam die Augen und schon brüllt eine Dame in pinkem Federgewand: „SIE IST WAAAAAAAACH!“ Ich kann ihren Gaumenbommel sehen, so laut brüllt sie. Meine Hoffnung versiegt. Der Dirigent, eine Mischung aus einem sabbernden Hund und einem Wetterhahn, wedelt mit seiner Rute herum, aber es achtet schon längst niemand mehr auf ihn. Alle prusten, hauen, zupfen, zerren und schmettern mit und auf ihren Instrumenten. Hinten in der Ecke sägt jemand an einem riesigen Baumstamm herum – keiner weiß warum – vorne probiert sich ein Walross als Tenor. Nach einer Weile wird es kurz ruhiger, der Dirigent wischt sich mit einem Bananenblatt den Schweiß von der Stirn. Alle Augen richten sich nun auf ihn. Seine Augen richten sich auf mich. Ich öffne die Augen nun ganz. Der Dirigent stößt mit einem kräftigen Stoß seinen Wetterhahn an, der sich wirbelnd im Kreis dreht. Das ist das Zeichen. Jetzt wollen alle zuerst gehört werden, jeder hat einen sehr wichtigen Antrag vorzubringen. Der Kronleuchter wackelt gefährlich. Die Leute von der Zukunftsinsel sind die schnellsten, sie schießen schreiend nach vorne und stoßen ein paar gackernde Alltagssorgen um, die jetzt sehr beleidigt wegrennen. Die Zukünftler kommen immer näher. Der Paukist schlägt sich in Rage. Die jungen geigenspielenden Disziplingedanken wollen auch was sagen. Die Baumflöten tröten. Es ist ein ohrenbetäubendes, ein wahnsinniges Orchester.
Mit diesem trage ich mich dann herum, den ganzen Vormittag. Zwischendurch kommen auch ein paar nette Gedanken vorbei, manche bringen sogar Erkenntnisse von ihren Reisen mit. Manchmal ist auch tatsächlich kurz Stille. Zum Beispiel als ich am Montag in der Arbeit sitze und statt zu arbeiten ins Narrenkastl schaue. Ich blicke einfach aus dem Fenster, ohne Ziel, ich lasse die Augen träge umherwandern und irgendwann stehen bleiben. Dann schauen sie etwas verschwommen einen Baum an und es ist ruhig. Das ist schön. Ich genieße, dass die Musikerinnen und Musiker des Morgenorchesters Schaffenspause eingelegt, dass sie sich irgendwohin verzogen haben, um ihre Federn und Krallen zu putzen. In dieser schwummrigen Ruhe kommen dann oft die inspirierenden Gedanken daher. Die kommen nicht, wenn es bumpert und trommelt, nein, die brauchen diese etwas dümmliche Gelassenheit.
Als ich am Abend dann heimgekommen bin, habe ich schon gemerkt, wie sich die Nachteulen formierten. Ich wollte ihnen klar machen, dass keine Anträge mehr angenommen würden, weil die Sachbearbeiter völlig überlastet seien. Meine Gedanken haben sich daraufhin wie ein Rudel junger Welpen verhalten, die völlig wahnsinnig in alle möglichen Richtungen tapsten. Natürlich hatte das System und ich setzte mich einen Moment auf einen Stuhl und strich mir die Haare glatt. Mir kam der Gedanke, dass sich meine Gedanken vermehrten wie ein Hefepilz auf einer talghaltigen Kopfhaut in der prallen Sonne. „Und wenn ich still bin“, dachte ich weiter, „dann kommen sie daher wie die reinste Heuschreckenplage.“ Ich stellte mir vor, wie ich einen festen Absperrzaun baute. Ich verschnürte den Zaun mit dicken Kabelbindern und errichtete drum herum eine Betonschanze. Dann setzte ich mich allein in die Mitte und wog mich in Seligkeit. „Wenn der Andrang daherkommt“, dachte ich, „bleiben die Gedanken erst an der Schanze und dann am Absperrzaun kleben. Sollen sie alle übereinander rumpeln, mir ist das egal.“ Ich hegte die Hoffnung, dass sie alle weggehen würden, wenn ich einfach lange genug nicht reagierte. Nach dem Motto: Da passiert heute nix mehr, lass uns einen trinken gehen. Diesmal klappte es leider nicht mit dem Zaun. Ich hörte sie bereits hinten scharren, als mir einfiel, dass ich mich auch beschäftigen konnte. Beschäftigung war die einzige Möglichkeit, sie mir vom Leib zu halten. Obwohl es natürlich auch Spezialisten gibt, Sie kennen das. Sie schauen zum Beispiel einen Film, wissen aber hinterher gar nicht mehr, worum es ging, weil sie hinterhältig von Gedanken überfallen und verschleppt wurden. Oder: Sie schmusen gerade heftig mit einem von Ihnen angebeteten Menschen und plötzlich kommen die Gedanken daher. Dann ist es aus mit dem Schmusen. Gedanken kennen keine Privatsphäre, sie gehen überall hin.
Ich beschloss, mich abzulenken und dann den Ofen auszustellen, sprich ins Bett zu gehen. Natürlich wusste ich ganz hinten in meinem Hirn, dass schlafen nicht die Abwesenheit von Gedanken bedeutete. Das war es ja. Und ich wusste auch, dass heute irgendein besonderer Tag im Leben meiner Gedanken sein musste, denn sie waren heute ziemlich zahlreich und nervös. Ich ging trotzdem Zähne putzen, hörte aber über das Brummen der Zahnbürste hinweg den Gongschlag für einen ganz speziellen Männerchor. Mir war klar, dass sie ihre Stimmen gut poliert und einige Whiskys zur Ölung gebechert haben mussten. Während ich ins Bett stieg, wurde ich von theatralischen Gesängen begleitet. „Was wohl heute los ist,“ denke ich noch, da beginnt schon der erste zu wimmern. „Die Soli sind das Schlimmste“, denke ich weiter. „Wieso wählen sie immer den Unbegabtesten für die Soli aus? Klar, dass dann alle heulen.“ So liege ich auf dem Rücken und schaue in die Dunkelheit, im Hinterkopf jetzt wabernde Dreiklänge. Eigentlich ganz schön. Besser als ein Sprechchor von Achtklässlern einer Waldorfschule. Der Dreiklang wird jetzt zum Fünzigklang und die einzelnen Stimmen sind nicht mehr unterscheidbar. Dass es solche Töne überhaupt gibt, erstaunt mich für eine Sekunde. Was Arnold Schönberg davon gehalten hätte? Leider kann er nicht in mein Hirn rein und leider ist er schon tot. Ich stelle mir vor, wie ich die Gesänge aus meinem Kopf auf einen modernen Datenträger sauge und diesen mit der ersten Marsmission sehr weit weg ins All schieße.